Zwischen Sommer 2020 und Frühling 2021

Ich fahre nach Venedig zu einer der wenigen Natur- und Stadtführungen in diesem Sommer. Während ich im Bus an der venezianischen Werft vorbeifahre steigt eine Anzahl von  Arbeitern an der Haltestelle aus. Nach dem Parkplatz ein Wäldchen, Schilfgebiet und die ersten Salzwiesen. Dann rollt der Bus auf die Brücke die Venedig mit dem Festland verbindet, der Ponte della Libertà und gibt den Blick frei auf die Lagune, die grüne Lunge von Venedig. Jedes Mal warte ich gespannt auf diesen Augenblick, es ist fast so als bräuchte ich die Bestätigung, dass es diese Lagunenlandschaft noch gibt. Je nach Wetter, Wasserstand, Tages- und Jahreszeit ist sie anders. Bei Ebbe sind die Sandbänke von vielen Seidenreihern, Fischreihern und Möwen bevölkert. Diesmal ist Flut und ich schaue auf die typisch graugrüne Wasseroberfläche, die nur wenige Zentimeter die Sandbänke überspült. Mein Blick schweift von der Industriezone am Lagunenrand in die Weite, bis ich am Horizont in etwa 40 km Entfernung die Umrisse der euganeischen Hügel erkenne. Ein Containerschiff fährt in Richtung Hafenausfahrt Malamocco. Während im Personenhafen seit März keine Kreuzfahrtschiffe mehr anlegen.

Inzwischen habe ich meine  Gäste am Piazzale Roma in Empfang genommen, sie sind neugierig auf das andere Venedig. Die Führung beginnt und wir tauchen ein, in relativ unbekannte Stadtteile, die auch vor Covid 19 relativ wenig von Touristen besucht wurden, wie zum Beispiel Cannaregio, Santa Croce oder Castello.

In diesem Sommer teilen  die deutschen Touristen, meist Paare, oder Familien, widersprüchlichen Gefühle: einerseits der Faszination Venedig fast für sich alleine zu haben und andererseits eine  seltsame Atmosphäre der Verlassenheit zu spüren.

Der Himmel ist so blau und klar wie sonst nie im Sommer und das Wasser in den Kanälen ist grün transparent in dem sich kleine Meeresäschen knapp unter der Wasseroberfläche tummeln. Ich erzähle von der Stadt, oder besser, lasse die Stadt sprechen und wie sich die Venezianer hier seit vielen hundert Jahren an diese amphibische Inselwelt angepasst haben, aber vor allem wie sie es, zumindest bis ins 18. Jahrhundert, geschafft haben ein relatives Gleichgewicht zwischen den natürlichen Veränderungen und den Interessen des Staates und des Gemeinwohls herzustellen. Wie die Häuser auf vielfältige Weise ober-und unterirdisch abgesichert sind, wie das soziale Gefüge funktionierte, warum die Kamine so eine seltsame Form haben, welche Bedeutung die Gärten, sowie die Wildkräuter an Brücken und Kais hatten und woran man die Maßnahmen der Stadtsanierung sieht. Regelmäßig sind die Gäste erstaunt über diese Abstecher hinter die Kulissen und bedanken sich über die Einblicke in das venezianische Leben.

März nach einem Jahr …2021

Inzwischen leben wir schon ein Jahr unter der Herrschaft der Pandemie und der Pandemiemaßnahmen und wir befinden uns in der 3. Corona-Welle. Wieder steigen die Infektionszahlen auch im Veneto und seit gestern gilt eine Begrenzung des Bewegungsradius auf die eigene Komune.

Ich empfinde es als großes Privileg im Stadtgebiet Venedig zu wohnen, nicht nur in Coronazeiten.

Während im ersten halben Jahr in Venedig viel über die Chance des Lock down für Venedig diskutiert wurde, so offensichtlich abhängig vom Tourismus, dass man fast nicht mehr von einer lebendigen Stadt reden konnte, häuften sich die Forderungen nach bezahlbarem Wohnraum für Einheimische und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Seit Jahren verlangen die Venezianer ein neues Konzept für ihre Stadt, das den Massentourismus in Grenzen hält und den Einwohnen die Möglichkeit gibt hier zu wohnen und zu arbeiten.

Inzwischen hat sich die wirtschaftliche Situation so dramatisch zugespitzt, dass der Ruf nach Tourismus, egal welchen, wieder fast unwidersprochen zu hören ist. Natürlich stehen viele Arbeitsplätze auf dem Spiel, aber genau deshalb bräuchten wir einen langfristigen Gesamtentwicklungsplan für die kommenden Jahrzehnte. Wo sind die Politiker mit Weitblick, die nicht nur mit der nächsten Wahl liebäugeln und sich nicht vor der Lobby verneigen, sondern den Mut haben, gemeinsam mit Stadtplaner*innen, Soziolog*innen und Wirtschaftswissenschaftler*innen ein  neues, lebenswertes Venedig zu schaffen.

Es gibt fähige Stadtplaner*innen, die sich mit Venedig beschäftigen, allen voran die der Universität Venedig, aber auch von außerhalb kommen interessante Beiträge wie zum Beispiel von der deutschen Stadtplanerin Veronika Howe die in ihrem Buch „VENEZIA VERDE Umwelthauptstadt Europa 20xx“, eine hoffnungsvolle lebenswerte Entwicklung von Venedig skizziert.

Auch meine Arbeit hängt vom Tourismus ab, allerdings nicht vom Massentourismus, sondern seit knapp 30 Jahren von der Nische des Öko- oder Slowtourismus. Meine Tätigkeit begann ich als Ökopädagogin bei Naturführungen, oder Klassenfahrten. Seit über 20 Jahren organisiere und leite ich auch Reisen und Exkursionen mit Erwachsenen und seit einigen Jahren bin ich Dozentin in der Erwachsenenbildung mit Bildungsurlaub in Venedig.

Dieses interessierte Publikum entwickelt sich oft zu regelmäßigen Besuchern,  immer mehr zu Kennern und je mehr sie von Venedig nicht nur sehen, sondern erleben, desto mehr schließen sie die Stadt und ihr Schicksal ins Herz.

Diese Reisenden  nehmen jedesmal viel mit nach Hause, aber sie geben der Stadt und ihren Einwohnern auch etwas zurück, und hierbei meine ich nicht nur Geld, sondern tieferes Interesse, Respekt und Würde.